Sonntag, 12. Februar 2006

HINGEHEN! Berlinale bringt Musik

Annette hatte von einem ihrer Musiker einen Tip bekommen: Konzert um elf in der Torstrasse hundertelf, nix genaues weiß man nicht, egal, machen wir. Bestimmt das Burger, oder sowas, die sind da doch alle. Aber es ist ein leerstehendes Haus, und ich denke OH Nein, nicht noch eine Nacht unter Menschen, die alterstechnisch meinen Söhnen näher sind als mir. Das Treppenhaus ohne Geländer weckt weitere Erinerungen, jaja, Hausbesetzer, Clubs, alte Zeiten. Wir klettern nach oben.

Aber im 4 Stock erwartet uns dann unter anderem eine schweizerische Großfamilie mit Kindern und Freunden, unterschiedliche bildschöne Frauen, alle in unserem (fast 35 bis 45) Alter, Männer mit Hut, die Leute eher besonders, ausgefallen gekleidet, alle sehr entspannt, man kennt sich, es sind vielleicht 25 Leute. Das Publikum macht neugierig, kein Clubpublikum. Es ist 23.00, wir sind pünktlich. Eine leerstehende Wohnung, geheizt, niedrige Decken, eine Theke eingebaut. Stühle.

Nach einer Weile habe ich entdeckt, dass die vermeintliche Installation die Instrumente sind: Holzschrankartiges, in Brusthöhe, mit darüber gelegten ausgeschalten Brettern. Selfmade, funktional aussehend, raumfüllend, verschieden hoch, jeder Schrank vielleicht anderthalb Meter breit. Und Luftballons, mit denen die Kinder spielen.

Wir warten. Der Barkeeper und Veranstalter ist so mager, das seine Augenklappe nicht richtig hält. 1 Bier, 1 Wein: 4 Euro. Wir rücken näher an die bullernden Kohleöfen und sind ganz zufrieden.

0.20: Die Musiker! Eine Frau, zwei Männer. Mir unbekannte Gesichter. Der eine beginnt die unter der niedrigen Decke klebenden Luftballons ein Stück herunterzuziehen und wieder loszulassen, das Publikum lacht und muss still werden: man hört die Ballons dieses sehr zierliche, äh, dieses Gummigeräusch machen. Dann beginnt etwas, leise mit Händen, Ballen, Fingerspitzen, es hört sich sofort nach 8 Händen an und nicht nach vieren, die sich da unterhalten. Wir sind alle wieder hellwach: das sind richtig, richtig gute Leute davorne, keine Nach-Feierabend-Combo, man merkt es nach den ersten paar Takten. Das sind Musiker. Die haben was vor. Der Trompeter kommt dazu, er schafft es gleichzeitig zu rauchen und zu spielen, die drei kommentieren sich: Es ist kein Jazz (Der Trompeter unterbricht sich einmal nach einem Anfang oh, that was jazz und beginnt etwas anderes), es ist sehr modern, oh give me a language for music, ein Gespräch, es sind komplizierte dichte Spielereien von Menschen, die eine ungeheure Bandbreite an Möglichkeiten haben, und die schnell genug sind für diese Bandbreite. Manchmal minutelanges sich hineinatmen in ein Thema, ein Motiv (Motive auf dem Schlagzeug, da erinnert sich der Körper nachher besser dran als das Hirn, sowas), die Musiker sind dabei ganz vergnügt ineinander vertieft, dann plötzlich wird es brillant, schnell, komplex treffend. Alles Improvisationen, und jedes Stück hat ein sehr genaues, schlafwandlerisch sicheres Ende, bei dem das Publikum immer erstmal lachen muss, weil es so überraschend abgesprochen wirkt. (Beim letzten Stück entwickelt sich ein lustiger Dialog zwischen einer Art kleinem Bandoneon und einer Nasenflöte, der aber insgesamt sehr gerechtfertigt wirkte. Versucht mal, souverän auf einer Nasenflöe zu spielen.)

Wir drei Ahnungslosen sind alle völlig baff. Ich bitte einen der Menschen mit Aufnahmegeräten im Raum, mir die Namen der Musiker aufzuschreiben, und alles, alles wird klar. Es sind Weltklassemusiker in diesem Abrisshaus versammelt, und jetzt kommt die gute Nachricht: sie werden noch ein paar weitere Nächte dort sein. Während der Berlinale. Es kostet nichts, es ist großartig und im vierten Stock, geht hin. Unbedingt.


Zu hören sind: Joey Baron (ja, der von u.a. Bill Frisell) und die ebenfalls grossartige Robin Schulkowsky an den Percussionschränken. Gestern war noch Michael Gross an der Trompete dabei, heute soll Bob Rutman, der mit dem Steel Cello kommen.

Torstrasse 111, schätzungsweise wieder nach 23.00

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