Donnerstag, 10. Mai 2007

geboren am 19.12.1909

an einem tag, der an allen ecken und minuten auseinanderbröckelt, noch einen brief geöffnet, vom amtsgericht neustadt. ich wurde enterbt. meine großmutter ist wohl schon vor einem jahr gestorben, sie wohnte bei ihrem sohn aus 2. ehe, und sie war dort nicht mehr zu erreichen für uns, wir haben das akzeptiert und den AB besprochen, jeder mit dem seinen beschäftigt.

sie hat uns nur selten besucht, aber mein vater fuhr durch die ganzen siebziger und achtziger oft mit uns hin, in die berge, er war ein treuer sohn, oder einfach nur von pflicht beseelt, sie war eine selbstbewußte schöne und starke frau, eine sentimentale alte nazidame, das wissen meine schwester und ich heute, an den wänden ihrer wohnungen, alle mit aussicht auf den luganer see, hingen immer diese schwarzweißbilder aus den 30ern, von unten fotografiert, die brüste in die welt und das kinn gereckt, graues kleid.

sie hat ihren ersten mann, einen autoritären und herzwunden bergwerksdirektor und ihren ersten sohn wegen einem eloquenten und erfolgshungrigen nazi verlassen, und der wiederum seine frau mit fünf kindern, und alle diese kinder klagen seit jahren um ein vermeintliches vermögen, von dem keiner weiß, ob es tatsächlich existiert oder ob es nur ein notwendiger mythos ist, der die vergangenheit noch lebendig und die familie zusammen hält, eine brücke in die zeit davor, nachprüfbar vorhanden ist nur noch ein vergilbter teil davon, alte bücher und ein paar schöne vasi-stiche, von der sonne gebleicht, denn das neue paar hat in rom gelebt und später in der schweiz, nach dem krieg, in einer abgeschlossenen welt voller geschäfte und alter freunde, das war geschichte damals für uns, unsichtbare freunde, oder ist das meine vorstellung? so dachten wir uns das damals, in einer kulturellen selbstsprechanlage, meine großmutter immer randvoll mit geschichten, die sie als jugendliche in worpswede bei den künstlern erlebt hat, ihre abenteuer, sie hat als eine der ersten frauen an der tu in berlin ingenieur studiert und danach in ihrem beruf gearbeitet, wir dachten als kinder, sie könnte vielleicht fliegen, sie hatte geist und charisma, bis sie dem falschen mann begegnete, sie war immer zweierlei, die dame der späten zwanziger, die mackensen geküßt hatte, und die frau mit dem merkwürdigen ehemann, der ein mussolinifoto mit signatur ganz oben im schatten auf dem schrank stehen hatte, das wir uns bei unsren besuchen immer heimlich anzugucken versuchten, in der zeit vor den diskussionen und vor dem bewußtsein.

eine fremde art, bei der wir fragen stellen konnten, weil der weltkrieg noch gar nicht vorbei war, also als wir teenager waren, oder verschönere ich da jetzt etwas, sassen wir vielleicht doch immer nur um die geschichte der großmutter herum und redeten über ihre bilder und die gedichte und den lieben gott, na, es war beides, aber diese giftige sentimentalität mit ihren vielen staubteilchen im sonnenlicht, das vollkommen weltabgewandte, das hab ich noch sofort abrufbar behalten. eine sehr deutsche biografie.

der sohn mit dem zweiten mann, mein halbonkel, wurde als lehrer ein opfer des radikalenerlasses, danach erfolglos, der ist auch nicht ganz kosher, er hat als ersatz für alles eine nicht zu bändigende geldgier entwickelt und hat die schon demente und nicht mehr allein lebensfähige frau zu sich geholt, und dort ist sie gestorben, nach nur anderthalb jahren, was wir alle nicht wussten, wir haben angerufen und karten geschickt und wollten vorbeikommen, aber der zweite sohn hat sie für sich behalten.

es war meine großmutter, und ich bin traurig, dass sie so sterben musste, was jetzt bleiben wird von ihr, nicht viel.

(20. jahrhundert, eine pest)

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Riemer (Gast) - 11. Mai, 07:41

Klasse Text!

Casino - 11. Mai, 10:31

mir liegt diese geschichte im magen, man ist hin und her zwischen erinnerungen, liebe und einer gewissen wut.
wir reden, was wir wissen, und zeugen, was wir gesehen haben, und ihr nehmt unser zeugnis nicht an (joh 3,11), sie wollte immer über ihren glauben reden und hat soviel falsches geglaubt.
lmd78 (Gast) - 11. Mai, 10:23

wie man sich immer sofort komisch verbunden fühlt mit menschen, die am gleichen tag geburtstag haben wie man selbst... und sofort schreien möchte: hier! ich auch! 19.12. juhu! aber nachdem ich nicht nur die überschrift, sondern den ganzen text fertig gelesen hatte, hat sich dieser alberne impuls etwas gelegt, so dass ich ihn hier reflektiert ausleben kann.

außerdem beneide ich dich um den ausdruck "kulturelle selbstsprechanlage". hut ab. auf den punkt, wie der ganze eintrag.

Casino - 11. Mai, 10:34

hey, dann werde ich ab sofort am 19. immer dir gratulieren, statt meiner großmutter, darf ich?
blogger.de:kittykoma - 11. Mai, 10:49

ich bekomme immer leise innere panik, wenn ich von familien lese, deren mitglieder den kontakt zu einander abbrechen.
der vater meiner tochter hat seine eltern seit zehn jahren nicht gesehen. für ihr enkelkind haben sie sich sowieso nur die ersten 18 monate widerwillig interessiert. sie kennt sie nicht, die großeltern.
aber um dem traurigen, großartigen text eine positive seite abzugewinnen: das interesse an der großmutter muß immens gewesen sein, wenn der onkel sie so für sich behalte wollte. und das ist besser, als wollte sich keiner um eine 90jährige kümmern.

Casino - 11. Mai, 11:06

je, es gibt leute, die sind die ganze zeit immer so für sich, an die kommt man nicht ran, da hilft auch nichts. und das interesse: ja und jein, einerseits wurde sie ausgenommen, andererseits war sie nicht allein, aber geld war ihr nichts mehr, es war also gut so.
fraudores (Gast) - 11. Mai, 14:10

sowas macht mich traurig.
Familien, die nicht miteinander sprechen, der Onkel, der sich einerseits kümmert, und andererseits den Kontakt abwürgt und nicht mal bescheid sagt, dass die Großmutter gestorben ist.
Sowas ist mir so unbegreiflich - so unsinnig - da hat doch niemand etwas von...
Ach.
liebe grüße!

lmd78 (Gast) - 12. Mai, 15:07

ich freue

mich auf jeden fall über gratulationen! und für deine großmutter kannst du ja eine kerze anzünden, das kann auch nie schaden.

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