Zeitblasen

Mein Gedächtnis sortiert sich chronologisch und nicht nur perspektivisch. Alles was länger als 10 Jahre her ist, wie die Uni oder Petrarca, wird in Gruppen oder Klumpen konglomeriert, und wenn man ein Stückchen erwischt und dran zieht, kann alles mögliche mit herauskommen.
Bin heute mal wieder durch die FU gelaufen, sie war wie ausgestorben, kaum Studenten in Sicht, die Jugend heute kommt wohl immer nur zu den Seminaren und findet in der Uni keine Lebensgrundlage mehr wie, äh, wie wir früher. Die Rostlaube ist vor einem Jahrzehnt aus meinem Leben verschwunden und sie sieht aus, als hätte nicht nur ich sie verlassen. Mitten zwischen den leeren Eisengängen (Enterprise) erhebt sich eine riesige bunte Blase, auch leer, aber auf andere Art. Es gibt eine Stephen-King-Erzählung, in der eine Flugzeug-Besetzung aus der Zeit fällt und auf einem Flughafen landet, aus dem die Gegenwart gerade verschwunden ist. Nach den King-Abenteuern landen sie auf einem anderen Flughafen, den die Zeit gerade einholt.
Nicht mehr und noch nicht so dicht nebeneinander, und sie kriegen sich nie. Andrerseits hat der Bibliotheksneubau in seiner totalen Unfunktionalität etwas erfrischend verfehltes, und sie sind so stolz darauf.

Dieser modulare Charakter des FU-Gebäudes wirkt skurril, wenn man an die Strukturen der Universität seit damals denkt, das demokratischste daran die winzigen Butzen, in denen die Professoren arbeiten müssen, die Sekretariate immer in doppelt so großen Räumen.

Aber vielleicht altern Neubauten einfach anders.

oh my

Vor mir der Sommer und davor noch der Mai! Und der Sommer wird wie immer seine eigene Zeit dabeihaben. Ach ja. Die Tage vorm 1.Mai sind die hellsten im Jahr, alles hell, das Grün, das Licht, die Aussichten. Und es kümmert einen überhaupt nicht, ob sich wieder wer prügeln wird in 36, das ist weit weg und lang her. In meinem Alter hält man die Restauration lieber ohne Revolution aus.
Die kleine Kehrseite des inneren Frühlingsgehopses ist der Trotteltechno von den ewigen Teenies in der Wohnung drüber. An jedem lauen Abend, bis weit in die laue Nacht. Ich werde morgens um 7 mit es klappert die mühle am rauschenden bach antworten, volle Lautstärke aus einem ganz miesen kleinen Kassettenrekorder, gerne auch dreistimmig gegrölt: KLIPP KLAPP! KLIPP KLAPP! KLIPP KLAHAHAPP! Danach will man als Mutter immer erstmal gar keine Musik mehr hören, aber es macht trotzdem glücklich.

Fernweh und Heimat

Fernweh. Ich werde mal einen Reiseführer für den ipod machen, nach Strassen herunterzuladen: man kann dann beim Spazierengehen die Geschichten der Häuser und ihrer Bewohner hören. Und die Texte sollten von Menschen stammen, die da mal gelebt haben, deren Leben dort stattgefunden hat. Bisschen Geschichte, bisschen Biografie, auch kleinere Strassen, also nicht nur die Kollwitzstr. (obwohl, erinnert sich noch jemand ans Cafe Westphal, mit dem 1900 einzige Kneipe am Platz, ca. 1992?) sondern auch die Wörther, Raumer oder Rykestr. Einen Stadtführer mal anders, einen aus Details und Erinnerungen bestehenden. Ich durfte in New York die Bowery entlanglaufen mit einer Freundin, die sie sehr gut kannte, und es bleiben ganz andere Dinge kleben, und auf ganz andere Weise, wenn eine Stimme sie erzählt. Wenn ich Zeit und Geld hätte, würde ich Häusergeschichten sammeln, erzählt von den alten Witwen in den Erdgeschosswohnungen, die wissen noch, wer zuletzt in der Beletage gewohnt hat, bevor sie in 2-Zimmerwohnungen zerschlagen worden ist. Und welche Farbe die Häuser zuerst hatten, also vor rosa-hellgelb-ocker, ob die DDR den Stuck abgeschlagen hat, ob es mal Hühner gab in den Hofremisen.

Jahnn revisited

Er sah aus wie Shrek, nur daß er nicht grün war.

Fiktion/Lüge

„Ihr glaubt wohl, bei einer Lüge nicht erwischt zu werden, sei dasselbe wie die Wahrheit sagen“, grad wieder auf der Rückseite meiner SZ-DVD entdeckt, ein Satz, den man gern selber gesagt hätte in so einem Moment von Klarheit und Wut. Aber es ist ein Satz der Niederlage, wer ihn sagen muss, hat schon verloren. Ein dummer Satz, der den Lügner entschuldigt, indem er die Wahrheit diskreditiert: die Wahrheit ist keine Glaubensfrage, und erst die Macht des Lügners macht sie zu einer.
Lügen sind ein höchst interessantes Untersuchungsfeld. Was unterscheidet sie von anderen Aussagen? Ihre große Funktionalität. Man lügt mit Grund, man hat ein Ziel, das über die Satzaussage hinausgeht, und dieses Ziel läßt sich nur mit einer Täuschung erreichen, und man lügt ein Gegenüber an, egal ob es eins oder mehrere sind. Ich denke dass hier auch die Grenze zur Fiktion liegt. Fiktion ist unterhaltung, Lüge ist Täuschung, das eine ein Zweck, das andere ein Mittel. Diese beiden Dinge gehören gar nicht zusammen: das Blog und die Frau. Fiktion hat alle Spielräume, ist frei von Kategorien wie wahr/falsch. Wenn die Frau dahinter jemanden anlügt, dann ist das verwerflich, egal ob sie das einer Fiktion oder der Anonymität oder einem Selbstentwurf wegen tut. Die Lüge nimmt (unter anderem die Würde), die Fiktion gibt. Wenn die Grenzen dazwischen nur noch vom Autor auseinandergehalten werden können, dann hat der Autor die Verantwortung, das auseinanderzuhalten. Wo ist das Problem?

Für Gäste: hier
(Ich wäre gern so elegant wie Bov bei diesem Thema, aber aber es ist alles noch so bunt im Blogland)

Maman et putain, Jean Eustache

Dieser Film war 90 Minuten lang. Dann 100 Minuten zu lang. Dann 110 Minuten zu lang. Dann 120 Minuten zu lang. Dann 130 Minuten zu lang. Dann 140 Minuten zu lang. 150, 160, 170, Hundertachzig Minuten. Es ging die ganze Zeit um Quatschen und Sex, sehr bloglike. Ich hatte revolutionären Sex erwartet, es war vollgequatschter Blümchensex die ganze Zeit. Und es gab auch leider keine Mütter und keine Huren, nur kleine Mädchen ohne Rückgrat, also von denen versteh ich nichts. Und das an einem Tag, wo ich nachmittags den wunderbaren Redford angucken durfte. Ich muss nochmal mit dem Kurator sprechen.

Mes petit Amoureuses

Ein sehr schöner Film über einen 13-jährigen Jungen, der nach einer Zeit bei Oma auf dem Land wieder in die Stadt kommt, und dort von seiner Mutter arbeiten geschickt wird. Von Jean Eustache, 1981 an Selbstmord gestorben
Der Film löst mit so einem tiefen Atemzug die vielen Schichten, durch die Kindheitserinnerung stattfindet. Diese Lackschichten vergrößern die Dinge oder lassen sie ganz verschwinden, Eustache zeigt im Verzicht auf Interpretationen und Färbereien, was tatsächlich alles hineinpasste in so einen Kindheitssommer. Also die kleinteilige Wirklichkeit, die vielleicht aus einem Blick, einem Kuss, einer Geste bestand, kein grosses Ganzes, sondern immer nur einen Tag nach dem anderen. Zeit, sehr viel Zeit. Als Zuschauerin werde ich melancholisch, weil dem Jungen ein Schicksal aus Schweiß und Arbeit bevorsteht, und kann mich freuen über seine kleinen Liebschaften, um die es geht in diesem Film. Beides läuft unbeschadet nebeneinander, und Eustache läßt mich in Ruhe mit meinen Gefühlen. Kein filmischer so-war-es-Gestus, wo die armen Kinderdarsteller immer grosse Sätze sagen müssen und aus einem Paralelluniversum stammen, in dem sich Ursachen und Wirkungen in einem 1:1-Verhältnis aufhalten.
Es gibt einen sehr schönen Moment (der Kurator der Retrospektive nachher beim Bier: „eine der schönsten Szenen der Filmgeschichte“, ein guter Kurator), wo der Hauptdarsteller mit einem Kumpel auf einer Landstrasse bei Narbonne hinter zwei Mädchen herläuft, und beide auf eine gleichzeitig lässige und extrem eilige Weise versuchen, die Mädchen einzuholen.

Am nächsten Samstag läuft „La maman et la putain“, der zweite der beiden abendfüllenden Filme von Eustache, im Arsenal in Berlin und irgendwo in Nürnberg, man kriegt die Filme wohl nicht so oft zu sehen.

Die ganze Musik auf 3 Scheiben

Ich hätte gerne auf vielleicht 2 bis 3 Cds eine Musikgeschichte für Laien, in der man das vorher-nachher erhören kann. Ein linearer Versuch mit typischem wäre nett, so etwas wie eine historische Mainstreamsammlung. Von Josquin und Ockeghem bis Pärth und Janácek. Mit hörbaren Merksätzen. Nicht um die Komponisten zu erklären, sondern um Musikentwicklung als Verlauf darzustellen, so etwas wie ein hörbares Lexikon, Struktur für die persönliche, äh, Audiothek, wie nennt man das? Weiß ich auch nicht. (beim Lesen von Argh!)

...

Mein Sohn D. auf die Frage, was er sich zu seinem 4. Geburtstag wünscht: Sankt Martins (=Smarties). Sein Bruder, der auch vier wird: Kleber.
Das ist schön, und ich weiß, das es bald anders wird.

50 Jahre zuhause

Ich verlasse mein Viertel nur noch selten. Es gibt alles, inclusive Theater und Käseladen, im allernächsten Umfeld, und bei jeder Besorgung trifft man Bekannte, von denen man alles weiß, soziale Isolation gleich null.

Sowieso werden die Partys seltener und sind dann zunehmend runde Geburtstage und nicht mehr einfache Feiern, weil die Nacht so lau und der Frühling so dringend ist.
Aber heute sollte es mal wieder sein. Meine Freundin und ich werfen uns also in Schale, obwohl wir auf der Party incl. Gastgeber überhaupt keinen kennen, aber so ein 50zigster in einer 250 m2 Wohnung in Schöneberg, das hörte sich nach sneakerfreier Zone an. Und ich muss meine ganzen schönen Klamotten aus seligen Tangotagen noch mal auftragen, bevor ich gar nicht mehr reinpasse.

Es sollte natürlich ganz anders kommen. Die Wohnung ist wie erwartet eine riesige Zimmerflucht, der Flur breit genug für einen Mittelklassewagen, aber es steht nichts drin. Keine Möbel, kaum persönliche Einrichtung. Es gibt ein paar Plakate aus den achtzigern, Matratzen, Kissen, und unterschiedliche Farben an den Wänden, ansonsten sind die fünfzig Lebensjahre des Bewohners unsichtbar. Kein Design, keine teuren Lampen, keine Monstersofas, sondern ein paar Fotos und Dinge an den Wänden: wir gucken auf Geschichten und nicht auf eine Karriere. A.’s Netzstrümpfe und meine hohen Schuhe sind fehl am Platz, wir sind fast nur umgeben von sehr, sehr alten T-Shirts über Hosen, die schon zum dritten Mal unmodern geworden sind, aber es ist völlig egal. Wir haben nämlich mit unserem Bezirk auch den Jahrmarkt der Eitelkeiten verlassen und sind im alten Westberlin angekommen, als es solche Wohnungen noch zu mieten gab.

Es ist ein Umfeld, in dem Schein gleich Sein ist, und das verändert den Blick auf die anderen Gäste. Viele, sehr viele Menschen. Viele dieser gealterten Jungen, entweder sehr hager und ab 50 dann eher verhärmt als underground aussehend, oder feist geworden, hängebackig, mit traurigem Blick ins nächste Decolletee. Die teuren Hemden und Armbanduhren, die auch herumlaufen, werden von diesem Ambiente verschluckt wie in einer Zeitmaschine, die nur das wesentliche zurückläßt, und wir können diesem Prozess zusehen. Er bringt die Leute mit den verschiedensten Biografien auf einen gemeinsamen Nenner, und einige stehen ganz benommen herum und bekommen Erinnerung und Gegenwart nicht mehr auseinander.

Dann passiert langsam etwas sehr schönes, und darum sind A. und ich auch lange dageblieben, obwohl wir vor Müdigkeit kaum laufen konnten: es hatte mit Musik zu tun, aber nicht nur. Der DJ sitzt an einem Powerbook, mit iPod und allem, und spielt diese ganzen uralten 15-Minuten-Stücke, mit endlosen Gitarrensoli, alte CAN-Sachen (kennt jemand noch „Aspirin“?), und alle, alle tanzen. Die alten Hippies mit Käppi und Bart genauso wie die üblichen barfusss-Frauen und die Seidenhemden und Anzugträger, in einem leeren, trüb beleuchteten Raum, alle nebeneinander. Es gab keine Anmach-Atmosphäre mehr wie auf sonst fast jeder Party, wenig Smalltalk, einige Joints, es ging wirklich um die 50 Jahre Leben, die da gefeiert worden sind.

...

Ich habe mir seit 4 Tagen nicht die Haare waschen können, weil ich nicht zum Shampoo-kaufen komme. Ich , die ich früher immer drei unterschiedliche zur Auswahl hatte, ein teures zum Ausgehen, eins für Notfalltage und eines für Gäste laufe seit zwei Tagen mit Haargummi herum. Es ist eine Krux. Ich werds morgen mal mit Waschmittel versuchen.

Die Möglichkeit

Zwei Stimmen, mit Jeroen Willems, von Johan Simons. Vielleicht, wahrscheinlich werde ich mich an das Stück anders erinnern, weil es so textgewaltig daherkommt und der Text schneller verloren geht als die Darstellung. Willems hat eine grossartige Präsenz auf allen drei verfügbaren Ebenen, ist vollkommen authentisch im Text, im Körper und im Kommentar zu beidem. Diese unterschiedlichen Stimmen laufen mühelos neben- und gegeneinander, aber immer wird das richtige akzentuiert oder übertrieben, es gelingt ihm, seinen Text durch den Körper blosszustellen oder ihm dieses diskrete Pathos zu verleihen, das Brillanz heutzutage im Hörer hervorruft (Sowas sentimentales: So klar war das alles mal, so schön waren Argumentationen, so endgültig konnte man urteilen). Das Stück beginnnt mit dieser Klarheit, die Pasolini in seinen TV-Interviews an den Tag legte, von Willems genau dieser Beiläufigigkeit dargestellt. Nach den Pasolini-Passagen springt Willems zu einer grandiosen Berlusconi-Darstellung und der traurigen Geschichte einees Intellektuellen, der vergeblich versucht, sich beim Teufel heilig zu kaufen. Die anderthalb Stunden vergehen vollkommenn unbemerkt, ich würde den Text gern nachlesen, also in dieser Zusammenstellung mit den Auszügen aus Reden des Ex-Vorstands von Shell. Der Regisseur sagt uns nachher, dass es den Text nicht zu kaufen gibt, vielleicht weiß jemand, wo man besonders die Dialoge des Intellektuellen mit dem Teufel herkriegen kann. Ich bin furchtbar vergesslich.

Es ist ein wirklich besonderes Stück. Die Volksbühne wollte noch anlegen und hat anschließend noch eine Lesung/Performance mit ua Chris Nietvelt veranstaltet, die als Condoleeza Rice noch einen Vortrag zur Lage der Dinge brachte. Wir sind dann gegangen nach dem Satz „ Ich habe Eier, mehr als die meisten im Saal“, denn genau dieses dumme Deklamieren ging nicht mehr, nachdem man bei „Zwei Stimmen“ immer dazu gebracht wurde, an den falschen Stellen zu lachen. Ich habe letztes Jahr von Simons auch Titus Fall of Rome gesehen, der überhaupt nicht funktioniert hat. Nach langem mal wieder ein großartiger Theaterabend, mit nichts als einem einzigen Schauspieler und seinem Text.

Auf dem Heimweg mit Don Giovanni im Ohr vergucke ich mich spontan in einen vielleicht fünfzigjährigen mit sehr langen Wimpern, den ich gerne so mit einer Überraschung verführen würde.

...

Die Handlung dieser Oper ist so banal, dass wir den Leser damit nicht langweilen wollen. Sie handelt von einigen Schwachsinnigkeiten und der Kühnheit Xerxes’, der sich in eine Platane verliebt hat und eine Brücke bauen läßt, um Asien mit Europa zu verbinden. Der Rest ist frei erfunden.

Habe gerade aus Frühlingsgründen eine gewisse Anfälligkeit für Händel-Opern.

Die Kirche und ich

Beim Anblick der alten Knacker in ihren wunderschönen Roben auf dem Petersplatz heute, alle windzerzaust und stillstehend in Macht und Pracht:

Ich erinnere mich noch an den Tod des letzten Papstes nach einer Regentschaft von gefühlten 3 Monaten, es schien mir lang genug damals. An die Tränen des Nachrichtensprechers der RAI, an das ungläubige Staunen, und natürlich an das Lächeln des lächelnden Papstes. Giovanni Paolo I., 1978 verstorben. Der Papsttod wurde von meinem Vater in der Familie sehr spöttisch kommentiert, und es ist mir damals schon aufgefallen, dass er beim Bäcker und beim Zeitungshändler ein ganz anderes Gesicht zu diesem Thema hatte als zuhause. Ich bin in einer ganz plastischen Kirchenpräsenz aufgewachsen, von der Wohnzimmercouch aus war durch die Fenster rechts und links neben dem Fernseher nur eine große grüne Kupferkuppel zu sehen, das Dach von S. Sebastiano, einer Kirche des 16. Jahrhunderts. Sie hatte einen schönen kräftigen drei-Glocken-Satz, neben dem das stumpfsinnige Gedengel der Kirche hier in der Senefelderstrasse ein einziges Elend ist, und diese alten großen Glocken schlugen jede Stunde, bis in den Abend hinein. Der Küster war ein ausgemergeltes dünnes Männchen, das die vielen Bälle, die wir aus dem vierten Stock in den Kirchgarten warfen, nie wieder herausrückte. Wir dachten, dass er dort einen Ballfriedhof eingerichtet hatte und verstanden nicht, warum er nie eine von uns hinein ließ. Viel später habe ich erfahren, dass der gute Mann dort einfach eine hübsche private Graspflanzung hegte, die er lieber für sich behielt. Ab und zu schlug ein helles Totenglöckchen, es schlägt so schnell, weil die Seelen ja immer so schnell weg sind, dachte ich als Kind. Der Katholizismus war für mich außerdem mit frühmorgendlichen Ritualen verbunden, weil eine Freundin von mir immer um 6 zur Messe musste, also VOR der Schule, da gab es für mich nur Kleinfamilie und keine große Welt des Glaubens. Überhaupt schien der Hauptunterschied zwischen Katholiken und Protestanten einer des Zeitaufwands zu sein: Katholik war man immer, von früh bis spät, und wir Protestanten gingen nur Ostern, Weihnachten und zu besonderen Feiertagen in die Kirche. Ich habe meine katholischen Freunde immer nur ein bisschen um ihre Rituale beneidet, eigentlich nur um den Automatismus des Rituals, nie um dessen Bedeutung, die mir immer nur fremd war in ihrer demonstrativen Klarheit. Das automatische bekreuzigen beim Taufbecken, das Stummwerden im Nachbeten der lateinischen Liturgie, und gleichzeitig das zutiefst harmlose dieser Gewohnheiten (die ununterscheidbarer Teil des Alltags werden müssen, um zu funzen), das hat mich am meisten gewundert bei Babsi, sie sagte „Ciao, ich muss noch in die Messe“ und war weg wie andere Leute zum Fussballspielen. Aber der Grund für diesen Zeitaufwand muss doch Angst gewesen sein, oder? Ich hatte als Mädchen natürlich nie Angst vor Gott, immer nur vor dem Atomkrieg und meinem Vater. Während die armen Katholen ein großes gut ausgeleuchtetes Panoptikum an Angstdingen zur Verfügung hatten. Aber vielleicht ist Angst nicht das schlechteste, um einen bei der Stange zu halten.

...

Der Verzicht auf den Laizismus ist in Italien nur ein Vorwand, um vom Verzicht auf die Gewaltenteilung abzulenken.

Der Pfad meiner Mutter

Bei meiner Mutter bedeutet Frühling vor allem: Jagdsaison. Meine Mama lebt nicht mehr wirklich im Jetzt, sondern immer kurz davor, als alles noch gut war, oder in der Zukunft, wo alles wieder besser werden soll. Sie hat für jedes Problem eine Lösung, und an der hält sie fest, egal an welchem Ort. Ihr Lieblingsproblem ist mein allein-mit-3-Kindern-Zustand, den sie ununterbrochen und vor allem im Frühling ändern möchte, deswegen hat sie neulich beim Publikumsgespräch nach Dido und Aeneas, müde und zu vorgerückter Stunde zunehmend schwerhörig, die anwesenden Männer auf Tochtertauglichkeit überprüft. Vorne saß Sasha Waltz, frisiert und geschminkt wie Elfriede Jelinek, und bewarf Attilio Cremonesi mit so süßen wie ungeübten Komplimenten. Cremonesi hat den verlorenen Prolog der Oper rekonstruiert, Waltz hat aus den Sängern Tänzer gemacht, alle sind glücklich geworden dabei, ich träumte ein bisschen über das Erhebende an der Theaterarbeit, und fühlte mich in meinem frühlingshaften Lagerfeld-Röckchen, schönen Schuhen, feinen Strümpfen und einem Seidenpullover nahtlos eingebaut ins bürgerliche Umfeld. Meine Mutter wollte die Chancen zur Tochterrettung nicht verstreichen lassen und riß mich immer wieder aus diesem verdienten Chillout mit Hinweisen wie: „Guck mal, dritte Reihe, der ist allein da und hat noch Haare! Guter Anzug, sieht aus wie geschneidert! Geh doch mal hin!“ Sie erklärt mir dann nachher immer, sie müßte so laut sprechen, sonst könnte ich sie ja nicht verstehen, nein, sie sei nicht schwerhörig, was reden die Leute auch so leise. Das alles ist dann doch ernüchternd. Überhaupt hatte ich den ganzen Abend über nur Blickkontakt zu einem alternden all-in-black-Lesbenpaar, die sich wahrscheinlich nur über meinen Rock lustig gemacht haben, und zu einem fetten Herrn, dem ich einen Stiletto-Tritt verpasst habe, weil er die ganze Oper über geräuschvoll die Nase hochgezogen hat. (Übrigends eine wunderbare Oper, sie soll in dieser oder der nächsten Spielzeit wieder aufgenommen werden.) Ich werde jedenfalls mit Muttern nur noch in männlicher Begleitung ausgehen.

Noia pomeridiana

Alle Fenstertüren offen, auf allen Balkonen irgendwas los, Zeitungen rascheln, leere Gläser, von draussen Wind und allerlei Geräusche, die Zwillinge singen das Pinguin-Lied und spielen Lego mal im Flur, mal in einem Zimmer. Wir haben nichts vor, wir gehen nicht raus, wir sitzen so herum. Ich erinnere mich selber noch an diese ewigen Sonntagnachmittage, wo ein Spiel zum nächsten führte, die Wohnung mit neuen Geschichten gefüllt wurde, jeder Schrank eine neue Bedeutung erhielt und das Licht hell und warm war. Es ist ziemlich klasse, jetzt den Kindern bei ihrer Zeitlosigkeit zuzugucken, sich treiben zu lassen, keine Pläne zu haben. Ab und zu kommt Besuch, trinkt einen Kaffee und leiht sich den Ikea-Katalog, dann kommt die Nachbarin und nimmt einen Tee, dann wieder nichts, dann bisschen Rom gucken auf NTV, und es immer noch erst 5 Uhr. Göttliche Langeweile.

...

Gestern in dieser sehr langen Kneipe mit dem sehr langen Namen An einem Sonntag im August mit teilweise sehr alten Freunden. Gespräche und Blicke. Der ganze Abend nur Perspektive in alle vier Dimensionen, erst kurz vor 0 Uhr kommt der Fluchtpunkt dazu: ein rastahaariger kleiner Afrikaner mit einem Instrument, dass man sofort als eine Kreuzung zwischen einem elektrischen Kürbis und einem Wäscheständer identifizieren kann. Er spielt Guantanamera und liest den Text von kleinen Zetteln ab, die er auf dem Kürbis befestigt hat.

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